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„Die Gegenwart ist nur aus der Geschichte zu erklären“. Mit Ingo Schulze Dresden sehen

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Eine Rezension zu Ingo Schulze: Dresden wieder sehen. Göttingen: Wallstein, 2021, ISBN 978-3-8353-5119-6, verfasst von Thomas Bürger

Ingo Schulze zählt wie Durs Grünbein oder Peter Richter zu den Dresdner Autoren, die ihre Heimatstadt auch in der Ferne nicht loslässt. „Dresden wieder sehen“ nennt Schulze seinen schmalen Sammelband mit sechs Zeitungsbeiträgen, die er zwischen 2009 und 2021 für die Süddeutsche Zeitung, den Guardian, DIE ZEIT und die Berliner Zeitung verfasste. Hinzugefügt sind ein Offener Brief an den Schriftsteller Jörg Bernig, seine Dankrede zur Verleihung des Dresdner Kunstpreises 2021 und ein kurzes Nachwort von Volker Braun, mit dem der ältere Preisträger den jüngeren ermuntert, sich weiter einzumischen: „Wie er das literarisch tut, zeigt sein unheimlicher Heimatroman mit dem nicht eben buchpreistauglichen Titel Die rechtschaffenen Mörder und dem rätselhaften Schluß, der Kultursachsen fallen läßt wie vom Felsen herab.“ Nacheinander gelesen sind die Beiträge dieses Sammelbands besorgte Reflexionen über eine Stadt, die viel Unverständnis auf sich zieht: „Warum schaffen die es, eine Frauenkirche wieder aufzubauen, aber nicht den Ruf ihrer Stadt“, so Peter Richter in seiner Fernbeobachtung aus New York.[1]

Wer Ingo Schulze liest, darf sich freuen, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Er beginnt bereitwillig mit sich selbst: Wie stand es mit seiner Heimatbegeisterung und dem „Mythos Dresden“ und warum ist ihm diese Stadt inzwischen fremd geworden? Im Beitrag „Ziviler Ungehorsam“ hält er der Stadtregierung den Spiegel vor, die am 13. Februar 2010 nicht den Missbrauch des Gedenkens durch Neonazis, sondern Aktionen gegen den Marsch der Rechtsradikalen unterbunden hat. 2015 fragt er, ob die Pegida-Demonstranten nicht „nützliche Idioten“ seien, weil sie vor lauter Wut die „eigentlichen Fragen“ erst gar nicht stellen? Noch mehr schmerzt ihn, dass die angesehenen Loschwitzer Buchhändler Susanne Dagen und Michael Bormann seit ihrer Charta 2017 und der Gründung einer Exil-Buchreihe im trüben völkischen Milieu fischen. Gerade weil er ihnen lange persönlich verbunden war, lässt er ihnen das Segeln „Unter falscher Flagge“ nicht durchgehen.

Ingo Schulze auf der Frankfurter Buchmesse 2017 (Wikimedia Commons/JCS, Lizenz: CC BY-SA 4.0)

Als zwei Tiefpunkte der letzten Jahre werden die Hassrede Akif Pirinçcis 2015 auf dem Theaterplatz (dem die Pegida-Veranstalter das Mikrofon abdrehten) und die Verächtlichungmachung der Erinnerungskultur in Björn Höckes „Hofbräuhaus“-Rede 2017 in die Dresdner Stadtgeschichte eingehen. Mit einem offenen Brief bittet Schulze den Radebeuler Autor Jörg Bernig, ihm zu erklären, wieso die Kritik an dem Loschwitzer Buchhaus und dessen Versuch, die „völkische Rechte kulturell salonfähig“ zu machen, einer „Stigmatisierung“ gleichkäme? Er fragt dies voller Hoffnung, dass eine Verständigung unter Schriftstellerkollegen über gemeinsame Werte und Auswege aus der Polarisierung und Radikalisierung möglich bleiben.

In seiner Dankrede zur Verleihung des Dresdner Kunstpreises am 3. Juni 2021 spannt Schulze den Bogen seiner Entwicklung vom „eifernden Lokalpatrioten“ zum kritisch-empathischen Gesprächspartner seiner Heimatstadt. Er nutzt die Gelegenheit, nun auch den westdeutschen „Transformationspaten“ und der sich vererbenden „Ungleichheit zwischen Ost und West“ einen Spiegel vorzuhalten. „Vom Osten zu sprechen bedeutet in der deutsch-deutschen Situation viel zu oft, vom Westen zu schweigen oder gar in ein Gut/Böse-Schema abzugleiten.“ Viel wäre geholfen, wenn „der Westen seine innere Blockade gegen kritische Selbstreflexion anginge, statt sich diese mit Hilfe eines Sündenbocks vom Hals zu halten.“

Dabei urteilt Schulze nicht pauschal, sondern schaut genauer hin, mit den Mitteln der Literatur und Essayistik. „Die Gegenwart ist nur aus der Geschichte zu erklären.“ Diese gern zitierte, von ihm erst genommene Erkenntnis versteht er als Einladung zum fortgesetzten Gespräch, die wir, die Stadtgesellschaft, annehmen sollten: „Wie wir unsere Vergangenheit sehen, bestimmt unsere Zukunft“. Dresden darf nicht Fassade, Projektionsfläche für Geschichtsideologien werden. Dresden sollte vielmehr Anschauungsort sein für die Glanzzeiten und die Irrwege deutscher Geschichte, Gesprächsort für ein streitbares, zivilisiertes, demokratisches Miteinander. Dresdner Autoren wie Schulze, Grünbein oder Richter können mit ihren Blicken von außen sehr viel dazu beitragen.


Autor

Prof. Dr. Thomas Bürger, Germanist und Historiker, war von 2003 bis 2018 Generaldirektor der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB). Er ist Vorsitzender der Sächsischen Bibliotheksgesellschaft – SäBiG e.V.

Publikationen von und über Thomas Bürger in der Sächsischen Bibliografie


[1] Vgl. Peter Richter: Dresden revisited. Von einer Heimat, die einen nicht fortlässt, München 2016.


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